Doris Runges Gedicht „ikarus“

DORIS RUNGE

ikarus

das herz randvoll
mit himmel
als die erde
mein raubvogel
immer größer
und dunkler werdend
mich mitten
im flüchtigen traum
schlug

1985

aus: Doris Runge: jagdlied. Deutsche Verlagsanstalt, München 1985

 

Konnotation

Die strenge Ökonomie der Wörter und die äußerste Verkürzung der Aussage bei gleichzeitiger bildlicher Aufladung des Verses hat die 1943 geborene Dichterin Doris Runge zu ihrem primären Stilprinzip erhoben. In ihren lyrischen Bildfeldern von Jagenden und Gejagten, Fliegenden und Abstürzenden, Liebenden und Gescheiterten hat das Visuelle absolute Priorität. In ihrem poetischen Debüt jagdlied (1985) wagt sie eine Neudeutung des antiken Ikarus-Mythos.
Hier agiert nicht mehr der übermütig gewordene Ikarus, der mit seinen Flügeln aus Wachs den tödlich wirkenden Sonnenstrahlen entgegenstrebt, hier sorgt die Schwerkraft für eine Umkehrung der Ereignisse. Denn nun ist es die Erde, als „Raubvogel“ verbildlicht, die auf den träumenden Ikarus zu stürzen scheint. Der Traum vom Fliegen wird jäh beendet durch einen grausamen Jäger.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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