EDUARD MÖRIKE
Ein Stündlein wohl vor Tag
Derweil ich schlafend lag,
Ein Stündlein wohl vor Tag,
Sang vor dem Fenster auf dem Baum
Ein Schwälblein mir, ich hört es kaum,
Ein Stündlein wohl vor Tag:
,Hör an, was ich dir sag’!
Dein Schätzlein ich verklag:
Derweil ich dieses singen tu,
Herzt er ein Lieb in guter Ruh,
Ein Stündlein wohl vor Tag.‘
O weh, nicht weiter sag!
O still, nichts hören mag!
Flieg ab, flieg ab von meinem Baum!
– Ach, Lieb und Treu ist wie ein Traum
Ein Stündlein wohl vor Tag.
1837/38
In seiner produktivsten Zeit, den Jahren 1837/38, verfasste der unglückliche Dichterpfarrer Eduard Mörike (1804–1875) diese hinreißende Liebesklage eines Mädchens, das von der Angst vor Liebesverrat aufgezehrt wird. In der Rollenmaske des Mädchens, dem ein Vogel die Kunde vom untreuen „Schätzlein“ überbringt, spricht Mörike auch vom eigenen Kummer über das Verlassenwerden.
In die Ruhe des Schlafes bricht der Alptraum des Verrats ein. Und selbst die Diminutiv- und Verniedlichungs-Formen des Gedichts („Schätzlein“, „Schwälblein“) nehmen dem Vorgang nicht seine Dramatik. Die Zweifel an der verlässlichen Liebe des Geliebten flackern hier auf, ohne dass es zum erlösenden Dementi kommt, im Gegenteil. Liebe und Verrat gehören hier wie in einem ewigen Verhängnis zusammen. Mörike hatte allen Grund, diese Erfahrung exemplarisch dem unglücklichen Mädchen zuzuschreiben. Denn sein eigenes Liebes-Leben war ebenso geprägt vom fortdauernden Weltgefühl des Scheiterns.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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