EDUARD MÖRIKE
Restauration
Das süße Zeug ohne Saft und Kraft!
Es hat mir all mein Gedärm erschlafft.
Es roch, ich will des Henkers sein,
Wie lauter welke Rosen und Kamilleblümlein.
Mir ward ganz übel, mauserig, dumm,
Ich sah mich schnell nach was Tüchtigem um,
Lief in den Garten hinterm Haus,
Zog einen herzhaften Rettich aus,
Fraß ihn auch auf bis auf den Schwanz,
Da war ich wieder frisch und genesen ganz.
1837
Obwohl er 1834 nach der langen Leidenszeit seiner „Vikariatsknechtschaft“ mit der Pfarrstelle im schwäbischen Cleversulzbach sein Berufsziel erreicht zu haben schien, blieb der fromme Poet Eduard Mörike (1804–1875) weiterhin der hochgradige Neurastheniker und Hypochonder, der er immer gewesen war. Dass nicht nur unglückliche Liebesverhältnisse und chronische Melancholie die Ursache seiner instabilen Gesundheit waren, sondern auch unerträgliche Dichtung, demonstriert er in einem Gedicht aus dem Jahr 1837, seinem literarisch produktivsten Jahr.
Da von diesem Gedicht in Anthologien nicht immer der programmatische Untertitel tradiert wurde – „Nach Durchlesung eines Manuskripts mit Gedichten“ –, haben Mörike-Leser den Text auch schon als biodynamisches Plädoyer für den Rettich missdeuten können. Es geht aber nur um die Bekundung des Ekels vor den Erzeugnissen der poetischen Epigonen der Goethezeit. Als Gegenmittel gegen die süßliche Metaphorik der mediokren Dichter empfiehlt Mörike ein sehr würziges Gemüse.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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