Eduard Mörikes Gedicht „Um Mitternacht“

EDUARD MÖRIKE

Um Mitternacht

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
aaaaaaaUnd kecker rauschen die Quellen hervor,
aaaaaaaSie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
aaaaaaaaaaaaVom Tage,
aaaaaaaVom heute gewesenen Tage.

Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtets nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
aaaaaaaDoch immer behalten die Quellen das Wort,
aaaaaaaEs singen die Wasser im Schlafe noch fort
aaaaaaaaaaaaVom Tage
aaaaaaaVom heute gewesenen Tage.

nach 1828

 

Konnotation

Fast drei Jahrzehnte dauerte es, vom Mai 1828 bis zu einer Werkausgabe von 1856, bis dieses mitternächtliche Stimmungsbild Eduard Mörikes (1804–1875) zu seiner vollkommenen Gestalt gelangte. Zur Zeit der Entstehung der ursprünglichen Fassung des Gedichts litt Mörike ganz besonders unter dem Zwang seiner „Vikariatsknechtschaft“, die ihn immer weiter von seiner eigentlichen Berufung, der Dichtung als Lebensform, entfernte. Zudem quälte ihn noch das verstörende Erlebnis mit Maria Meyer im Jahr 1823, eine Begegnung, die ein nie zur Ruhe kommendes Schuldgefühl hinterließ.
Die Nacht wird ganz explizit als Mutter aller Dinge und der Lebens-„Quellen“ apostrophiert. Mörike entwirft eine Art kosmische Synästhesie, ist es doch die Nacht, die das Blau des Himmels „süßer klingen“ lässt. Der Dichter ist offenbar von den Erfahrungen der verfließenden Zeit und der Vergänglichkeit im Innersten berührt gewesen. So lösen sich hier die seelischen Zerrissenheiten auf, die Bewegung der Nacht kommt mit der Zeit und den Naturelementen in inneren Einklang und zur Ruhe.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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