ELFRIEDE GERSTL
Wer ist denn schon
wer ist denn schon bei sich
wer ist denn schon zu hause
wer ist denn schon zu hause bei sich
wer ist denn schon zu hause
wenn er bei sich ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zu hause ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zu haus bei sich ist
wer denn
1982
aus: Elfriede Gerstl: Wiener Mischung, Literaturverlag Droschl, Graz 1982
„Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen.“ Mit dieser lakonischen Umwandlung einer sprachphilosophischen Satzes von Ludwig Wittgenstein hat die Wiener Dichterin Elfriede Gerstl ihre literarische Maxime gefunden. 1932 in Wien als Tochter jüdischer Eltern geboren, überlebte sie die Zeit des Nationalsozialismus in diversen Verstecken. Die Fenster in der offiziell leer stehenden Wohnung waren verdunkelt, es durfte nur geflüstert werden. Über dieses Kindheits-Trauma hat Elfriede Gerstl nur wenig gesprochen. Aber ihre formal minimalistischen Gedichte sind um so beredter.
Das Bei-Sich-Sein war der Dichterin jahrelang nur in lebensnotwendiger Isolation möglich. Ein Heimatgefühl unter der sicheren Gewissheit eines Zuhause-Seins kann es unter diesen Bedingungen nicht geben. So stellt auch dieses 1982 erstmals veröffentlichte Gedicht die Möglichkeit eines Identitätsbewusstseins in Frage.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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