Elisabeth Borchers’ Gedicht „Ich erzähle dir“

ELISABETH BORCHERS

Ich erzähle dir

Ich erzähle dir die Geschichte
vom Himmel

Der Himmel hat keine Bäume
der Himmel hat keine Vögel
der Himmel ist auch kein Erdbeerfeld

Der Himmel ist ein Kleid
das der Erde zu weit ist

Der Himmel hat morgens
und abends ein rosa Dach

Der Himmel ist ein Haus
da hinein sollen wir kriechen

Der Himmel ist nicht so wie du denkst
der Himmel ist blau

1967

aus: Elisabeth Borchers: Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002

 

Konnotation

Was ist der Himmel für ein Ort? Eine Heimstatt der Transzendenz, der Präsenz des Göttlichen oder der Raum des Paradieses, wie die Theologen meinen? Eine lichterfüllte Sphäre hoch über der Erdoberfläche, von der die antiken Philosophen glaubten, an sie seien die Sterne angeheftet? Die 1926 geborene Dichterin Elisabeth Borchers hat die „Geschichte vom Himmel“ als unendliche Geschichte erzählt, als faszinierende Sammlung von Legenden, Vergleichen und Bildern, die nie auszuschöpfen sind.
Das Gedicht eröffnet Borchers’ 1967 veröffentlichten Band Der Tisch an dem wir sitzen: Es ist ein zwischen Märchenton, pädagogischer Belehrung und poetischer Phantastik changierender Text, der das große Rätsel der Himmelssphäre weder an eine vermeintlich wissenschaftliche noch an eine religiöse Lösung verrät.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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