Elisabeth Langgässers Gedicht „Die traurige Frau in der Untergrundbahn“

ELISABETH LANGGÄSSER

Die traurige Frau in der Untergrundbahn

O wie versunken die Augen,
Hände, sie litten so sehr
unter den tödlichen Laugen,
Schwester, das Leben ist schwer.

Niederwärts brausen die Gleise,
doch wenn die Sonne uns ließ,
donnert nur dunkler die Weise:
Schwester, das Leben ist süß!

nach 1930

aus: Elisabeth Langgässer: Gesammelte Werke, Gedichte, Claassen Verlag, Hamburg 1959

 

Konnotation

In der katholischen Monatsschrift Das Heilige Feuer erschienen 1920 die ersten Gedichte der Dichterin Elisabeth Langgässer (1899–1950). Die Tochter eines katholisch getauften Juden aus Rheinhessen orientierte sich am Beginn ihres literarischen Lebenswegs am konservativen Autorenkreis der Zeitschrift Kolonne und dessen metaphysischer Naturpoesie. Später fand sie Anschluss im linkskatholischen Milieu des „Frankfurter Kreises“ um Walter Dirks und Sebastian Haffner.
Dass auch in ihren Gedichten ein „heiliges Feuer“ lodert, hat die Autorin in einem Brief an Karl Krolow erläutert: „Ich bin eigentlich kein Lyriker im strengen Sinne“, heißt es da, „sondern meine Verse sind Teile einer Liturgie… Sie sind reine Mysteriengedichte.“ Das bittere Großstadt-Poem von der traurigen Frau ist vermutlich nach 1930 entstanden, nachdem die Langgässer mit ihrem Mann, dem jüdischen Staatsrechtler Wilhelm Hoffmann nach Berlin gezogen war. 1936 erhielt sie dort Schreibverbot, ihre Tochter Cordelia wurde nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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