ELKE ERB
Grundsätzlich
ein sohn hat eine mutter
wie die mutter einen sohn hatte
und die welt stimmte
so daß etwas alles veränderndes geschah
der sohn der mutter entwuchs
ihr verhältnis alterte, alterte
die mutter darin wurde kleiner, kleiner
und der sohn… nun ja
nun war er selber’ wer
2002/2003
aus: Elke Erb: Gänsesommer. Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2005
Elke Erbs wundersam verschrobene Prosa und Gedichte vermitteln auf beiläufige, minutiöse Weise Alltagswahrnehmungen und Reflexionen. Ihre Fragestellungen sind ganz persönlich und ganz abstrakt, etwa: Was geschieht beim Altwerden? Was hält einen Menschen zusammen oder zerfasert ihn? Die Autorin wurde 1938 in der Eifel geboren, siedelte 1949 nach Halle über; heute lebt sie in Berlin und Sachsen.
Das luftige Gedicht „Grundsätzlich“ braucht nur neun Zeilen, um eine Beziehung „grundsätzlich“ zu konturieren und infrage zu stellen. Eigentlich ist die Sache simpel; sie zeigt den Lauf der Welt: Die Einheit zwischen Mutter und Sohn löst sich auf, das Kleinerwerden der Mutter ist physisch wie psychisch zu verstehen. Ein schlechtgelauntes Gedicht? Eines im Stande weiser Abgeklärtheit? Die Melancholie ist mit leisem Spott durchsetzt: Das Grundsätzliche wird – so wie auch eine stimmige Welt – von Erb mit ihrer Vorliebe fürs Fragmentarische immer so gefasst, dass der Leser selbst seine Fragezeichen setzen kann.
Sabine Peters (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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