Else Lasker-Schülers Gedicht „Gebet“

ELSE LASKER-SCHÜLER

Gebet

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.

Und wandele immer in die Nacht…
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab ein Leben müde mich gewacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.

O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest.
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt,
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

1917

aus: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1. Jüdischer Verlag, Frankfurt a.M. 1996

 

Konnotation

Ein verwundeter Engel kann keine frohen Botschaften verkünden. So verweist auch die erbarmungswürdige Gestalt mit verletztem Flügel, die hier die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945) imaginiert, auf Unheil. Als 1917 zum ersten Mal Gesammelte Gedichte der Dichterin und darin ihr „Gebet“ erscheinen, ist das planetarische Unglück bereits in Form des Ersten Weltkriegs über die Menschheit hereingebrochen.
Hier artikuliert sich die tiefe Erschütterung der Glaubensfundamente, die der deutsch-jüdischen Dichterin nach 1913/14 widerfuhr, nachdem ihre besten Freunde und Weggefährten in russischen Kerkern und auf den Schlachtfeldern des Krieges ums Leben gekommen waren. Trotz aller Liebes-Versuche scheint dem Ich ein Hort der emotionalen und metaphysischen Geborgenheit zu fehlen. Und selbst die Anrufung Gottes, der verzweifelt um Schutz angefleht wird, bleibt ambivalent: Das Gefühl absoluter Verlassenheit kann Gott kaum mildern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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