ELSE LASKER-SCHÜLER
Mein Tanzlied
Aus mir braust finst’re Tanzmusik,
Meine Seele kracht in tausend Stücken!
Der Teufel holt sich mein Missgeschick
Um es ans brandige Herz zu drücken.
Die Rosen fliegen mir aus dem Haar
Und mein Leben saust nach allen Seiten,
So tanz ich schon seit tausend Jahr,
Seit meinen ersten Ewigkeiten.
1902
aus: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1996
„Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck…“ So beschrieb Gottfried Benn (1886–1956) das allgemeine Staunen über die wunderliche Erscheinung der Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945), die sich gerne hinter der Maske des orientalischen „Prinzen Jussuf“ verbarg. Exzentrik, Maskenspiel, Performance-Kunst und Poesie bilden im Werk dieser Dichterin eine Einheit.
Im „Tanzlied“ aus Lasker-Schülers Debütband Styx (1902) spricht das lyrische Subjekt von der totalen Auflösung einer festen Ich-Identität und von der seelisch-psychischen Zersplitterung als existenziellem Dauerzustand. In der Körpersprache des Tanzes verliert das Ich seine festen Begrenzungen. wird mitgerissen von dem Wirbel der Bewegungen. Gewidmet ist das Gedicht dem Stummfilmdarsteller Erich Kaiser-Titz, dem ersten Star der deutschen Filmgeschichte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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