Else Lasker-Schülers Gedicht „Siehst du mich“

ELSE LASKER-SCHÜLER

Siehst du mich

Zwischen Erde und Himmel?
Nie ging einer über meinem Pfad

Aber dein Antlitz wärmt meine Welt
Von dir geht alles Blühen aus.

Wenn du mich ansiehst,
Wird mein Herz süß.

Ich liege unter deinem Lächeln
Und lerne Tag und Nacht bereiten

Dich hinzaubern und vergehen lassen,
Immer spiele ich das eine Spiel.

vor 1917

aus: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 1,1: Gedichte. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1996

 

Konnotation

Das Gedicht der expressionistischen Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945) gehört zu dem Zyklus „Meinem so geliebten Spielgefährten Senna Hoy“; ursprünglich trug es die Widmung „Dem holden gefangenen Krieger Sascha“. Hinter beiden verbirgt sich Johannes Holzmann, in dessen Wochenschrift Kampf auch Lasker-Schüler veröffentlichte. Der Anarchist Holzmann floh 1905 aus Berlin, er wurde im zaristischen Russland inhaftiert und starb. In weiteren Gedichten wird sein Tod beklagt; Lasker-Schüler hatte mit anderen vergeblich versucht, ein Gnadengesuch für ihn zu erwirken.
„Siehst du mich“ ist eine von der Realität losgelöste Evokation, eine liebende Anrufung. Das Ich begreift unter dem Blick und dem Lächeln des Freundes: Lieben heißt Spielen und Lernen. Im schöpferischen Raum der Fantasie lässt sich des Freundes Anwesenheit wie sein Vergehen inszenieren. Die Beschwörung gelingt einfach wie ein Traum. Daher wirken im Gedicht auch Demut und Stolz, diese beiden Gegensätze, leicht ausbalanciert.

Sabine Peters (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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