Emmy Hennings Gedicht „Traum“

EMMY HENNINGS

Traum

Ich bin so vielfach in den Nächten.
Ich steige aus den dunklen Schächten.
Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.

So selbstverloren in dem Grunde,
Nachtwache ich, bin Traumesrunde
Und Wunder aus dem Heiligenschrein.

Und öffnen sich mir alle Pforten,
Bin ich nicht da, bin ich nicht dorten?
Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?

Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten
Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch…

1922

aus: Deutsche Gedichte. Von Hildegard von Bingen bis Ingeborg Bachmann, hrsg. v. Elisabeth Borchers, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1987

 

Konnotation

Die Widersprüchlichkeit und verwirrende Rollenvielfalt ihrer dichterischen Existenz hat viele poetische Zeitgenossen fasziniert: Emmy Hennings (1885–1948) war nicht nur femme fatale, Muse und Geliebte vieler Dichter (Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Hugo Ball u.a.), sondern auch Diseuse, Malermodell, Gelegenheitsprostituierte und Mitbegründerin des Dadaismus. Ihre Fähigkeit zur Selbstverwandlung beschwört sie in einem Gedicht aus ihrem Band Helle Nach von 1922.
In den Labyrinthen des Traums vollziehen sich unablässig Verwandlungsprozesse: Das Traum-Ich öffnet immer neue „Pforten“ zu neuen Individuationen; und das somnambule, in den Träumen changierende Subjekt erfindet sich ständig neu. Die Dichterin als Inkarnation der „Vielfachheiten“ durchläuft auch Metamorphosen, die einem „Märchenbuch“ entnommen sein könnten. Mit ihrem Traumgedicht ist Emmy Hennings jedenfalls ein vortreffliches Selbstporträt gelungen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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