ERICH FRIED
Zwiefache poetische Sendung
Der Hauptberuf der Schnabelsau
ist daß sie reimt auf Kabeljau
Doch wenn sie ihren Zensch entschleimt
bleibt selbst der Mensch nicht ungereimt
So halten Dichter Nabelschau
in unserem Kain- und Abelgau
Den Menschen wie den Kabeljäuen
obliegts dann sich am Reim zu freuen
1977
aus: Erich Fried: Liebesgedichte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1979
Für zweckfreie Komik hat sich der politisch engagierte Dichter Erich Fried (1921–1988) nie interessiert, da sich kein aufklärerischer Kassiber darin verstecken ließ. Das heitere Gedicht über die „Schnabelsau“, in dem Fried flugs einen „Zensch“ erfindet, da ein Reimwort für „Mensch“ benötigt wird, scheint hier die Ausnahme von der Regel zu sein. Aber Fried wäre nicht Fried, hätte er in dieses kleine Reim-Kabinettstück aus dem Band Die bunten Getüme (1977) nicht doch eine Belehrung eingeschmuggelt.
So heiter und wunderbar absurd der Anfang des Gedichts daherkommt, so schleicht sich in der zweiten Strophe doch eine ironische Kritik des Autors am selbstverliebten Subjektivismus seiner Kollegen ein. Das „Kain und Abel“-Motiv, das bereits in früheren Gedichten Frieds präsent war, verweist auch hier auf die Fortdauer der mörderischen Rivalitäten und Bruderkämpfe in unseren Nachkriegs-Gesellschaften. Die „poetische Sendung“ des zeitgenössischen Dichters sollte jedenfalls eine „Nabelschau“ ausschließen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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