ERICH MÜHSAM
Entlarvung
Europa hat sich abgeschminkt.
Befreit von Rouge und Puder
steht eklig da das Luder
und faucht und stinkt.
Den Schnürleib sittlicher Kultur
warf sie zum Kunstkorsette.
Statt Rippen Bajonette
hält feil die Hur.
Europa, mach das Hemde zu!
Der Anblick deiner Nacktheit
ist Gift und Abgeschmacktheit.
Krepiere, Du!
1915
Folgt man den Erzählungen der griechischen Mythologie, muss Europa, die Tochter eines phönizischen Königs, eine sehr begehrte Schönheit gewesen sein. Der Herrscher im Olymp, Göttervater Zeus, ersann eine Intrige, um sie zu entführen und sich des erotischen Beuteobjekts sexuell zu bemächtigen. Später wurde die Entführte von einem kretischen König geheiratet. Dass sich der Blick auf die einst attraktive Europa zum Unguten verändern kann, zeigt das sarkastische Poem des Apothekersohnes und späteren Anarcho-Revolutionärs Erich Mühsam (1878–1934).
Im November 1915 hatte Mühsam allen Anlass, einen Fluch auf die einst begehrte Gestalt Europa auszustoßen. Im Ersten Weltkrieg hatten die europäischen Staaten die Ideale von „sittlicher Kultur“ und Humanität über Bord geworfen. Ohne Schminke bietet die als „Hure“ disqualifizierte Europa einen erschreckenden Anblick: Ihr vormals verlockender Leib wird zum Exerzierplatz militärischer Gewalt: „Statt Rippen Bajonette / hält feil die Hur.“ Als Lockformel für virulente Europa-Utopien des 21. Jahrhunderts ist dieses Gedicht ungeeignet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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