Erich Mühsams Gedicht „Jetzt ist es Zeit“

ERICH MÜHSAM

Jetzt ist es Zeit

Jetzt ist es Zeit! – Es ist genug! –
Ich hab’ es viel zu lange getragen! –
Warum ich’s wohl so lange trug? –
Jetzt wird’s zerschlagen!
Ich war so tot! – Jetzt wach ich auf! –
Es ist noch Zeit. – Jetzt ist es Zeit! –
Mein Leben lebt – mein Leben schreit. – –
Ich setz’ das Leben an. Ich sauf’! –
Rest weg! – Und kracht der Krug entzwei,
so besser! – Besser tot als wrack! –
Weg. Mitwelt, weg! – Ich schmeiß zu Brei
die plumpen Schädel! – Pack!!

nach 1900

 

Konnotation

Aus seinem bürgerlichen Beruf – er sollte nach dem Wunsch seines Vaters Apotheker werden – hat sich der junge Erich Mühsam (1878–1934) spektakulär verabschiedet. Um seinem revolutionären „Temperament“ endlich Ausdruck zu verschaffen, warf der Apothekersohn aus Lübeck 1900 alles hin und stürzte sich in die Berliner Bohèmekultur. Zugleich gab er dem narzisstischen Bohèmeleben auch eine politische Richtung – indem er sich die anarchistische Umwälzung der alten wilhelminischen Welt zum Ziel setzte.
In atemlosen Appellen und Imperativen spricht das nach 1900 entstandene Gedicht vom selbstverordneten Aufbruch in eine neue Zeit. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich Mühsam vom literarischen Anarchisten zum politischen Agitator, der sie Gruppe Tat gründete und 1910 wegen sozialistischer Propaganda vor dem „Lumpenproletariat“ erstmals vor Gericht stand. Im Zuge seines Engagements in linksradikalen Bewegungen weicht der lässig-kabarettistische Gestus seiner Texte immer mehr der operativen Tendenz des revolutionären Kampflieds.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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