ERICH MÜHSAM
Weihnachten
Nun ist das Fest der Weihenacht
das Fest, das alle glücklich macht,
wo sich mit reichen Festgeschenken
Mann, Weib und Greis und Kind bedenken,
wo aller Hader wird vergessen
beim Christbaum und beim Karpfenessen; –
und Groß und Klein und Arm und Reich, –
an diesem Tag ist alles gleich.
So steht’s in vielerlei Varianten
in deutschen Blättern. Alten Tanten
und Wickelkindern rollt die Zähre
ins Taschentuch ob dieser Märe.
Papa liest’s der Familie vor,
und alle lauschen und sind Ohr…
Ich sah, wie so ein Zeitungsblatt
ein armer Kerl gelesen hat.
Er hob es auf aus einer Pfütze,
daß es ihm hinterm Zaune nütze.
1909
Von einem polemischen Kabarettisten und revolutionären Dichter wie Erich Mühsam (1878–1934) sind keine begütigenden und tröstlichen Verse zum Weihnachtsfest zu erwarten. Bereits in einem kleinen Versuch über die „Heilige Nacht“ lässt er seiner Spottlust freien Lauf indem er zwar vordergründig das Klassenlose des Weihnachtsfestes rühmt, zugleich aber den Streit der monotheistischen Religionen ironisiert: „Bourgeois und Proletarier / es feiert jeder Arier / zu gleicher Zeit und überall / die Christgeburt im Rindviehstall. / (Das Volk allein, dem es geschah, / das feiert lieber Chanukah.)“
In diesem 1909 erstmals veröffentlichtem Gedicht macht Mühsam das biedermeierliche Wunschbild vom glücklichen Weihnachtsfest als Stereotyp des Massenmediums Presse kenntlich. Am Ende dieser als fragwürdiges Zitat aufgerufenen Weihnachtsherrlichkeit verweist Mühsam auf die gesellschaftliche Wirklichkeit – auf die Realität des sozialen Elends.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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