ERNST BLASS
Sommernacht
Das Sternbild vor mir heißt „Der große Bär“
und von den Menschen seh ich nur die Schatten
Und hör sie trällern nur die dummen, platten
Kupletchen, die da schwärmen vom Begatten
Und daß das das allein Reelle wär.
Durch stille Hauche keucht ein Katerschrei.
Doch Wolken wölben sich monumental
Da vorne, urhaft, wie ein Grönlandswal.
Und ohne Schicksal sitzt ganz groß und kahl
Der Mond vor seiner Riesenstaffelei.
1912
Ernst Blass (1890–1939), einer der inspiriertesten Köpfe der expressionistischen Bewegung, hat sich den Dichter als einen „Darsteller des Alltags“ und „weltstädtischen Schilderer“ vorgestellt: als urbanen Geist, etwas gehetzt und „mit dem lebhaften Willen zur Kritik“. Sein Debütband Die Straßen komme ich entlanggeweht von 1912, in dem auch die „Sommernacht“ zu finden ist, formulierte das Lebensgefühl dieser Vorkriegs-Generation.
Monumentale Wolken, ein riesenhafter Mond, groß wie ein „Grönlandswal“ und das Weltall als Arbeitsfläche eines Malers – hier artikuliert sich eine enorm bilderhungrige Phantasie. Blass, der promovierte Jurist und bekennende Nachtlokalmensch, war eine rundum tragische Figur: Er litt früh an Epilepsie, ab 1928 quälte ihn ein schweres Augenleiden, das bald zu völliger Erblindung führte. Auch „Hundert-Mark-Depressionen“ (Blass) setzten ihm zu.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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