ERNST JANDL
liegen, bei dir
ich liege bei dir. deine arme
halten mich. deine arme
halten mehr als ich bin.
deine arme halten, was ich bin
wenn ich bei dir liege und
deine arme mich halten.
1985
aus: Ernst Jandl: poetische werke, Hrsg. v. Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag, München 1997
Bei dem radikalen Sprach- und Desillusionierungskünstler Ernst Jandl (1925–2000) sind zarte Liebesgedichte selten. In seinem 1985 erstmals veröffentlichten Poem macht er eine Ausnahme. Hier gelingt ihm eine anrührende Miniatur über das Glück einer Berührung und Umarmung.
In nur vier knappen Sätzen evoziert Jandl den kurzen Moment eines ungefährdeten Liebesglücks. In anstrengungsloser Nüchternheit spricht der Text von der Erfahrung des Beieinanderliegens, um sich zugleich innigster Nähe zu versichern. Nur zwei Verben – „liegen“ und „halten“ – und ein Substantiv – „arme“ – werden eingesetzt – und doch erzeugt der Text die ungeheure Suggestion, eine größere Intimität zwischen Ich und Du sei kaum denkbar. Es genügen also kleine syntaktische und semantische Verschiebungen, um die unerhörte Erweiterung des Ich-Bewusstseins anzudeuten. Um sich dem Liebesgeheimnis zu nähern, bedarf es keiner aufgeplusterten Metaphorik. Die Gefühle nisten in den Zwischenräumen der Sätze.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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