ERNST JANDL
zwei erscheinungen
ich werde dir erscheinen
wie stets ich erschienen dir bin
und du wirst weinen
denn ich bin dahin
und du wirst mir erscheinen
wie stets du erschienen mir bist
und ich werde weinen
weil zwischen uns beiden
zu sagen nichts mehr ist
1989
aus: Ernst Jandl: poetische werke, hrsg. von Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag, München 1997
„die rache / der sprache / ist das gedicht.“ Ernst Jandl (1925–2000) gehört zu den Autoren, die nicht nur in jungen Jahren radikal waren. Stets hat er das Gedicht aus seinem Material, der Sprache heraus revolutioniert. Neben experimentellen schrieb er auch traditionelle Gedichte mit einem starken Sozialbezug, in denen er selbst unverstellt vorkommt. Seit den späten 1970er Jahren verfinstert sich Jandls Weltsicht; Vergänglichkeit, Alter und Tod werden zu bestimmenden Themen.
In den idyllen (1989) wird der desillusionierende Sprachgestus noch verschärft. Während die herkömmliche Idylle alles Widerwärtige ausgrenzt, stellen Jandls Gegen-Idyllen die hinfällige Körperlichkeit heraus. Das vorgestellte Gedicht spielt mit der Mehrdeutigkeit des Wortes „erscheinen“, doch weisen der getragene Rhythmus und die lapidare Wortwahl auf eine geisterhafte Begegnung von „ich“ und „du“ hin, zwischen denen tödliches Schweigen herrscht. Aus der Wiederholung spricht eine Unerbittlichkeit, die schmerzt.
Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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