ERNST MEISTER
ABER wir sind doch
Kinder der Erde –
wissen wir’s nicht?
Zugehörig dein Ursprung,
dürften uns
dessen Bestimmungen
fremd nicht sein.
Doch entsetzlich
aufgespalten scheint
der Anfang der Anfänge selbst.
1960er Jahre
aus: Ernst Meister: Sämtliche Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 1985ff.
Eine Ursprungserzählung finden, um das Rätsel unserer Existenz zu verstehen: Das ist das Ziel aller Mythologien, Religionen und auch der ältesten wie neuesten Dichtungen. Ernst Meister (1911–1979), der philosophisch inspirierte Poet und Erforscher der letzten Dinge, reflektiert in einer lyrischen Miniatur das Selbstverständnis und das Dilemma der menschlichen Spezies: „Kinder der Erde“ zu sein und doch nicht an den „Grund“ des Daseins heranzukommen.
Als philosophischer Dichter forciert Meister die immer neue Befragung der Grundbegriffe, die prägend sind für das Weltverhältnis der Menschen. Und er treibt den Zweifel in den Kern der Ursprungserzählung hinein. Es gibt keine universell verbindliche Formel mehr für die Erklärung des „Anfangs“, die das Weltgebäude sinnstiftend zusammenhalten könnte. Es gibt nur rivalisierende Weltdeutungen, ein „Aufgespaltensein“, das nicht mehr harmonisierbar ist.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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