Ernst Meisters Gedicht „Ich bin von Sinn“

ERNST MEISTER

Ich bin von Sinn

ICH BIN
von Sinn entsetzlich
gelb,
lebendig bin ich
mehr als Herbst
und Winter nicht
mit Schnee,
auch Frühling nicht
mit der
Narzisse – was
bin ich mitten
in der Gegend
von Nacht und Tag, ich
weiß es nicht und ruf
die Vorzeit meiner
Zeit, da ich
nicht war, da
ich
nicht
war.

1970er Jahre

aus: Ernst Meister: Sämtliche Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 1985ff.

 

Konnotation

Viele haben keine Sprache“, so schrieb Ernst Meister (1911–1979) in einem Gedicht und benannte damit eine poetologische Prämisse seines Schaffens. Sein dichterisches Vorhaben lässt sich als Versuch verstehen, der Unbehaustheit des Menschen eine Stimme zu leihen. Dieser Versuch erklärt vielleicht den Eindruck der Hermetik, den Meisters Gedichte machen. Immerhin ist ihnen ein moralischer Impetus eingeschrieben, der sich nicht damit begnügt, das „Verstummen von Sinn“ durch Poesie zu verdecken, sondern die Sprachlosigkeit zu erforschen.
Das Gedicht lässt sich als Komposition auffassen: „Ein Gedicht ist ein Ereignis, das durch sich selbst in die Direktheit seiner Existenz wirken muss.“ Meister stellt die Frage nach dem Ursprung des Subjekts, doch kann mithilfe der Sprache nur auf den Ort verweisen, an dem diese Frage beantwortet werden könnte. Ernst Meister, der 1911 in Haspe geboren wurde, starb dort 1979 kurz bevor ihm der Georg Büchner Preis verliehen werden sollte.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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