ERNST MEISTER
Ich will weitergehn
Ich will weitergehn –
zu Berge fallen,
zu Tale steigen,
ich will weitergehn.
Am Saume des Meers
steht der Tor,
und der Wind flüstert ihm zu:
Das Salz der See
kann nicht dumm werden.
Ich will weitergehn,
zu Berge fallen,
zu Tale steigen…
Ich besuchte ein Grab.
Der Kopf eines Fisches
durchbrach den Hügel;
sein Auge schaute mich an
zwischen Blumen,
mein Herz stand still.
Durch das Netz, das nicht fängt,
fielen Wünsche und Wunsch,
und das Schweigen sprach:
Den Bettler der Worte
wird der Himmel nicht schelten…
Ich will weitergehn.
um 1955
aus: Ernst Meister: Sämtliche Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 1985ff.
Man muß schon etwas Mühe aufwenden, um die als hermetisch geltende Lyrik des Dichters Ernst Meister (1911–1979), der lange im Abseits stand und zurückgezogen in seiner Geburtsstadt Hagen lebte, zu entschlüsseln. Doch wird, wer diese Anstrengung auf sich nimmt, reich beschenkt. Ernst Meister war ein philosophisch geschulter Dichter, der als Student u.a. Vorlesungen bei Gadamer und Löwith besucht hat. Er scheute in seiner Dichtung denn auch die großen Themen nicht: Leben und Tod, Endlichkeit und Ewigkeit, Erfüllung und Leere.
Ein schöner Weltenzauber, eine schöne Weltverdrehung wohnt dem Gedicht inne. Beinahe alles scheint hier anders als in der „Wirklichkeit“. Die Dinge sind auf den Kopf gestellt: „zu Berge fallen“ und „zu Tale steigen“ möchte das lyrische Ich, das sich an die Kräfte der Natur hält. Als einen „Bettler der Worte“ könnte dieser Autor, dem das Schreiben nicht leicht von der Hand ging, sich auch selbst gesehen haben.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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