Ernst Stadlers Gedicht „Anrede“

ERNST STADLER

Anrede

Ich bin nur Flamme, Durst und Schrei und Brand.
Durch meiner Seele enge Mulden schießt die Zeit
Wie dunkles Wasser, heftig, rasch und unerkannt.
Auf meinem Leibe brennt das Mal: Vergänglichkeit.

Du aber bist der Spiegel, über dessen Rund
Die großen Bäche alles Lebens gehen,
Und hinter dessen quellend gold’nem Grund
Die toten Dinge schimmernd aufersteh’n.

Mein Bestes glüht und lischt – ein irrer Stern,
Der in den Abgrund blauer Sommernächte fällt –
Doch deiner Tage Bild ist hoch und fern,
Ewiges Zeichen, schützend um dein Schicksal hergestellt.

1911

 

Konnotation

Der aus Colmar stammende Ernst Stadler (1883–1914) begann als Prophet des „geistigen Elsässertums“, geriet danach in den Bann Stefan Georges, um schließlich eine sehr eigenwillige Form des Expressionismus zu kultivieren. Als Autor der expressionistischen Wochenschrift Die Aktion versetzte er seine Freunde in Erstaunen, weil er sich mit großer Innigkeit religiösen Themen und christlichen Dichtern zuwandte. Zum Beispiel den „franziskanischen“ Gedichten des französischen Poeten Francis Jammes. Gebete in Demut hieß Jammes’ Gedichtband, den Stadler 1914 übersetzte.
Als „Gebet“ lässt sich auch das 1911 entstandene Gedicht „Anrede“ beschreiben: Das Ich des Gedichts legt zunächst in hymnischem Ton ein Bekenntnis ab im Stile der Rausch-Artistik Friedrich Nietzsches. Der Einsicht in die Vergänglichkeit des Ich wird ein erhabenes, transzendentes „Du“ gegenübergestellt, das eine Auferstehung der „toten Dinge“ verheißt. Zwar ist dieses „Du“ nicht direkt als göttliche Gestalt benannt – aber sein „schützendes“ Dasein als „ewiges Zeichen“ verweist auf einen göttlichen Ursprung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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