EVELYN SCHLAG
ohne dich würde ich weiter
leben ohne dich bis es,
weiter leben wie bevor du,
lebt es so lang hat Augen
wie zuvor hat Blicke gleich,
geht es mir ohne dich wie es
mir geht läuft fällt, wäre ich
abgezogen mit ganzer Haut recht
kalt, lebt es hält es mich fest
was kam kommt einmal kommt: kopf-
über hinunterfliegen in
die Umarmung des Gehsteigs.
1988
aus: Evelyn Schlag: Ortswechsel des Herzens. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1989
Die Gedichte der österreichischen Erzählerin und Dichterin Evelyn Schlag (geb. 1952) kreisen in vielen Variationen um ein Zentralthema: um die „göttliche Ordnung der Begierden“ (so ein Romantitel der Autorin), die Wechselfälle der Liebe und die „Ortswechsel des Herzens“. Oft spricht hier eine Liebende, die sich in direkter Anrufung eines namenlosen „Du“ immer tiefer in die unentrinnbaren Ambivalenzen des Eros verstrickt.
Die lyrische Diktion orientiert sich in diesem Mitte der 1980er Jahre entstandenen Gedicht an dem hektischen Zerrissensein einer obsessiv Liebenden, die um den möglichen Absturz ihrer Hoffnungen weiß. Die konventionelle Syntax ist aufgesprengt, sie spiegelt in ihrer Zerklüftetheit den Verlust aller Gewissheiten, den die Liebe als Passion mit sich bringt. Auch das Risiko eines gewaltsamen Endes einer solchen Leidenschaft wird am Ende thematisiert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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