F.W. Bernsteins Gedicht „Wachtel Weltmacht”

F.W. BERNSTEIN

Wachtel Weltmacht

Schaut euch nur die Wachtel an!
Trippelt aus dem dunklen Tann;
tut grad so, als sei sie wer.
Wachtel Wachtel täuscht sich sehr.

Wär sie hunderttausend Russen,
hält den Vatikan zerschussen
und vom Papst befreit – ja dann:
Wachtel Wachtel Dschingis-Khan!

Doch die Wachtel ist nur friedlich,
rundlich und unendlich niedlich;
sie erweckt nur Sympathie.
Weltmacht Wachtel wird sie nie!

1988

aus: F.W. Bernstein: Die Gedichte, Verlag Antje Kunstmann, München 2003

 

Konnotation

Dem Dichter, Zeichner, Karikaturisten und Kalauer-Virtuosen F.W. Bernstein, der 1938 als Fritz Weigle in Göppingen geboren wurde, verdanken wir die bizarrsten Tiergedichte der deutschen Literaturgeschichte. Alles fing 1966 an, als Bernstein zusammen mit seinem Kollegen F.K. Waechter (1937–2005) das Buch Die Wahrheit über Arnold Hau vorlegte und darin einen mittlerweile zum Volksgut gewordenen Zweizeiler deponierte: „Die schärfsten Kritiker der Elche / Waren früher selber welche.“
In dem hinreißend komischen Wachtel-Gedicht, das erstmals 1988 im Band Lockruf der Liebe veröffentlicht wurde, macht Bernstein nun seltsame geschichtsphilosophische Ausflüge: Der Anspruch eines Vogels auf Weltmacht-Status wird einigermaßen schmunzelnd abgewehrt. Die Wachtel, eine Vogelart, die nicht für energisches Dominanzstreben bekannt ist, wird hier absurderweise erst als Russenstreitmacht, am Ende gar in Gestalt des grausamen Mongolenführers eingeführt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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