Franz Hessels Gedicht „Hermine“

FRANZ HESSEL

Hermine

Hermine liebt Aprikosentörtchen,
Limonade findet sie süßer als Bier.
Hermine liebt die geflüsterten Wörtchen.
Anständige Menschen gefallen ihr.

Sie liebt es, auf dem Diwan zu liegen,
Ein Stückchen Schokolade im Mund.
Sie spricht nicht gerne vom Kinderkriegen.
Sie findet es eigentlich ungesund.

Aber deshalb ist man nicht prüde.
Es gibt nichts Schöneres als die Natur.
Nur macht die Liebe einen so müde
Und ruiniert die ganze Frisur.

Hermine ist für das Ideale,
Das Ideale findet sie fein.
Die Liebe – findet sie – ist das Brutale;
Besonders die Männer sind so gemein.

um 1910

aus: Franz Hessel: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 4. Hrsg. von Hartmut Vollmer und Bernd Witte. Igel Verlag, Oldenburg 1999

 

Konnotation

Der Dichter, Übersetzer und Bohemien Franz Hessel (1880–1941) war der einzige passionierte Flaneur der deutschen Literatur. Seine Helden sind freischwebende Intellektuelle, die müßiggängerisch das Kraftfeld der Metropolen durchstreifen. Nach 1933 erhält der Jude Hessel Schreibverbot, 1938 verlässt er den Nazi-Staat in Richtung Frankreich, wo man ihn nach 1939 als „feindlicher Ausländer“ interniert. Die Strapazen der „Entheimatung“ überlebt er nur nur kurz; 1941 stirbt er in Sanary-Sur-Meer.
Das heitere Porträt einer jungen Frau, das Hessel in einem um 1910 entstandenen Gedicht abliefert, bleibt auf prinzipieller Distanz gegenüber der Bekundung von Emotionalität. Die Gefühlswelten der „Hermine“ werden von einem süffisant-dandyistischen Beobachter als stereotyp vorgeführt. Nichts könnte für einen Bohemien lächerlicher sein als die Suche nach dem „Idealen“ – betrachtet er doch Liebe und Leidenschaft als ein Spiel, in dem es keine „Authentizität“ gibt. Für die von der Liebe enttäuschte „Hermine“ hat der Dichter nur Spott übrig.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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