FRIEDERIKE MAYRÖCKER
LIEGE MIT BRAUNER KAPUZE KRUSTE AUF MEINEM BETT, TRETE
zum Kippfenster dampfend November 1 vermischtes Organ, Orange
von untergehender Sonne, weine Sisyphus, 1 Strich aus grüner
Feder und kratzend gegen die Scheibe, hat noch nicht
sich gebettet die zähe Sonne der Stern, habe mit niemand
gesprochen den ganzen Tag, nur: zahlen bitte im Gasthaus zumittag
wer will mich hören, höre einzelnen einzigen Ton
der Amsel den Vogel in meinem Herzen Vogel in meinen
Haaren, habe die Fingernägel geritzt gespalten, Schleppe
von schweren Stimmen unter dem Fenster, dem Garten zu, wessen
Stimme und Ruf – nächtlich
Schnee meines Herrn und Meisters
2001
aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte, hrsg. v. Marcel Beyer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004
Wer vom lyrischen Spätwerk der 1924 geborenen Wiener Dichterin Friederike Mayröcker sprechen will, darf von ihrer Frömmigkeit nicht schweigen. Das von ihr artistisch zelebrierte „Liebesspiel mit der Sprache“ verbindet sich in den seit 1990 entstandenen Gedichten immer häufiger mit liturgischen Gesten und Andachts-Bildern. Und auch in dem anrührenden Protokoll einer tiefen November-Einsamkeit, das 2001 entstanden ist, taucht ein religiöses Bild auf.
In dieser assoziativ verflochtenen Textur aus Offenbarungs-Blitzen und Augenblicken heilloser Einsamkeit erinnert vieles an eine klösterliche Existenz des Subjekts. Schon die braune Kapuze des einsam am Fenster stehenden Ich ist ein Zeichen der selbst gewählten Art Erweckungserlebnis: Aus dem Garten weht eine Stimme heran – und der nächtliche Schnee wird als Erscheinungsweise des „Herrn und Meisters“ erfahren.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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