FRIEDERIKE MAYRÖCKER
Schwalben Prozession nämlich
als ich hinunterging in die Strasze fingen an, fingen an,
zu fliegen die Schwalben fingen an, fingen an,
zu blühen die Linden in der Allee und
es war Nacht. Vielleicht auch Robinien, Jasmin, da
wuchs der Schmerz. Muszte denken an Brecht und seine
Gedichte, später Abend im Mai und allein. Ich sah
die Nachbarsleute nach Hause kommen 1 Mann 1 Frau nicht
mehr jung,
so sei Frühling sie seien vertraut
2001
aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007
Die 1924 geborene, in Wien lebende Friederike Mayröcker setzt ihre Gedichte intuitiv zusammen aus Traumfetzen und Denkbildern, Briefen, Artikeln, literarischen Quellen, aufgeschnappten Sätzen, Einfällen, Versprechern – Fundstücke, die auf einen neuen Anstoß nur warten. Zum Beispiel auf einen Abend im Mai, an dem die Natur als überwältigende Macht auftritt in Gestalt von Schwalben, Linden, Robinien, Jasmin. Das einsame Ich ist Teil dieser Naturbewegung, die auf magische Weise, rhythmisch und lautlich, in Wiederholungen („fingen an, fingen an“) Auftrieb erfährt.
Auch der „Schmerz“ gehört zu dieser betäubenden Frühlingsnacht, vermutlich ausgelöst durch das Nahen des ersten Todestags von Mayröckers Lebensmenschen Ernst Jandl, der am 9. Juni 2000 starb. Das Gedicht steht in dem Band Mein Arbeitstirol (2003) und ist auf den 23.–26. Mai 2001 datiert. Rätselhaft die kursiv gesetzte Schlusszeile wie ein nachgestelltes Motto – Selbst- oder Fremdzitat?
Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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