FRIEDRICH HÖLDERLIN
Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
1805
Das berühmteste Gedicht Friedrich Hölderlins (1770–1843) scheint jenen Wendepunkt des Lebens zu markieren, der heute laienpsycholoqisch als „Midlife-crisis“ begrübelt wird. Zusammen mit acht weiteren „Nachtgesängen“ zählt dieses Gedicht zu den letzten Texten, die Hölderlin 1804 noch selbst zur Publikation gab, bevor er die restlichen vier Jahrzehnte seines Lebens, geistig umnachtet, im Tübinger Turm verbrachte.
Zwei extreme Daseinslagen, die Lebensfülle des Sommers und die Lebenserstarrung im Winter, sind hier vereint. Die Empfindung der tragischen Existenz wird schon im Titel aufgerufen: Denn der Verweis auf die „Hälfte“ des Lebens enthält ja auch die Gewissheit der Begrenzung des Daseins, das Bewusstsein der Sterblichkeit. „Und in der Tat“, so Hölderlin in einem Brief an seine Schwester im Dezember 1800, „ich fühle mich oft wie Eis, und fühle es notwendig, solange ich keine stillere Ruhestätte habe, wo alles, was mich angeht, mich weniger nah und eben deswegen weniger erschütternd bewegt.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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