FRIEDRICH THEODOR VISCHER
Lesart
Ganz außer Maßen christlich war
aaaaaaaEin Fürst von Babylon,
Er mischte aus Romantik gar
aaaaaaaWein und Religion.
Er rief: bringt mir Champagner her
aaaaaaaNebst Bibel, Lumpenpack!
Trank mehr als eine Flasche leer,
aaaaaaaSchnupft auch dazu Tabak.
Johannis Evangelium
aaaaaaaSchlägt er dann auf mit Schall,
Es geht in seinem Ohr noch um
aaaaaaaDer manchen Pfropfe Knall.
Er wieget mit Gedankenschwung
aaaaaaaDen rothgesoffenen Kopf,
Dann liest er mit Beschwichtigung:
aaaaaaaIm Anfang war der Pfropf.
1882
Zu den intellektuellen Leidenschaften des Philosophen, Ästhetikers und humoristisch-satirischen Schriftstellers Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) gehörten seine antiklerikalen Pointen. Als er sich im November 1844 in seiner Antrittsrede als Professor an der Tübinger Universität freimütig zum Pantheismus bekannte, wurde er für zwei Jahre mit Lehrverbot belegt. In seinen humoristisch gefärbten Gedichten setzte er seine Spötteleien wider das protestantisch-pietistische Milieu, in dem er erzogen worden war, fort.
Das Bild des Bibel-Lesers, das Vischer hier in einer „Schnurre“ aus dem Spätwerk Lyrische Gänge (1882) zeichnet, fällt wenig schmeichelhaft aus. Die eklektizistische Mischung aus „Romantik“, „Wein und Religion“ ist der exegetischen Kunst des lesenden Fürsten wenig zuträglich. Am Ende wird auch noch der erste Satz aus dem Johannes-Evangelium der Lächerlichkeit preisgegeben: „Im Anfang“ war nicht mehr das Wort, sondern „der Pfropf“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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