GEORG HEYM
Der Winter
Der Sturm heult immer laut in den Kaminen,
Und jede Nacht ist blutigrot und dunkel,
Die Häuser recken sich mit leeren Mienen.
Nun wohnen wir in rings umbauter Enge
Im kargen Licht und Dunkel unserer Gruben,
Wie Seiler zerrend grauer Stunden Länge.
Die Tage zwängen sich in niedre Stuben,
Wo heisres Feuer krächzt in großen Öfen.
Wir stehen an den ausgefrornen Scheiben
Und starren schräge nach den leeren Höfen.
1911
In den späten Natur- und Landschaftsgedichten des Expressionisten Georg Heym (1887–1912) regieren Bilder tödlicher Fremdheit und Erstarrung. Der Winter wird zur Allegorie für eine Welt, die in den letzten Zügen liegt. Es ist ein fast posthumaner Kosmos: Die Menschen erscheinen hier als in ein unterirdisches Reich verbannte Wesen, geduckte, auf engstem Raum zusammengepresste Gestalten, die auf eine abgestorbene Natur starren.
In der winterlichen Szenerie, die Heym in diesem Anfang Oktober 1911 entstandenen Gedicht zeichnet, ist jeder Lebensimpuls erstickt. Die Naturerscheinungen sind durchweg bedrohlich, der Ausblick in die gefrorene Landschaft trifft auf eine beklemmend leere Welt. Die zeitgleich dazu entstandenen Tagebuchnotizen Heyms bekunden die Verzweiflung des Autors, der sich zum Untergang verurteilt sieht: „Ich weiß nicht mehr, wo mein Weg hingeht. Früher war alles klar, einfach. Jetzt ist alles dunkel, auseinander, zerstreut.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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