Georg Heyms Gedicht „Letzte Wache“

GEORG HEYM

Letzte Wache

Wie dunkel sind deine Schläfen
Und deine Hände so schwer.
Bist du schon weit von dannen,
Und hörst mich nicht mehr?

Unter dem flackernden Lichte
Bist du so traurig und alt,
Und deine Lippen sind grausam
In ewige Starre gekrallt.

Morgen schon ist hier das Schweigen
Und vielleicht in der Luft
Noch das Rascheln von Kränzen
Und ein verwesender Duft.

Aber die Nächte werden
Leerer nun, Jahr um Jahr,
Hier wo dein Haupt lag und leise
Immer dein Atem war.

1911

 

Konnotation

Georg Heym: Der nicht den Weg weiß“: So überschrieb der Dichter Georg Heym (1887–1912), einer der herausragenden Gestalten des expressionistischen Jahrzehnts, im Dezember 1911 eins seiner Tagebuchhefte. Die Gewissheit, dass sein Lebensweg früh enden werde, hat sich schon in seine allerersten, von grellen Visionen eines kommenden Schreckens geprägten Gedichte eingeschrieben. Im September 1911 evoziert er in einem seiner finstersten, trauervollsten Poeme den Abschied von einem geliebten Menschen.
Das Schweigen des Todes erzeugt einen Sog, der auch den Überlebenden, der die Totenwache hält, in seinen finsteren Bannkreis zieht. Von den dunklen Schläfen und erstarrenden Händen des Toten ist auch derjenige affiziert, der hier Abschied nimmt. Die Sprache des Gedichts wirkt gedämpft, ein dunkel tönendes Gemurmel, das in der angekündigten „Leere“ der künftigen einsamen Nächte zu verhallen scheint. Vier Monate nach der Niederschrift dieses Gedichts ertrank Georg Heym beim Schlittschuhlaufen auf der Havel.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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