GEORG MAURER
Geisterbahn
Ich fuhr in die Nacht der Geisterbahn.
Geöffnetes Fleisch, geplatzte Venen.
In den Kurven Köpfe nicken und höhnen.
Schleier wehn. Ich faß sie nicht an.
Die Freundin hat sich an mich gedrückt.
Ich lache Mut, wenn sie erschrickt.
Doch dröhnender lacht der rote Bauch.
Wir fahren vorüber und lachen auch.
Wir wissen nicht, was kommen wird.
Wir fahren nur einmal die Geisterbahn.
Wir legten dreißig Pfennig an.
Mehr hatten wir beide nicht.
Was kommen wird, wissen wir doch.
Ich meine nicht das Ausgangsloch.
Was auf uns kommt, auf das sind wir gekommen.
Was uns mitnimmt, hatten wir mitgenommen.
1960er Jahre
aus: Georg Maurer: Ich sitz im Weltall auf einer Bank im Rosental. Hrsg. von E. Maurer. Edition Wörtersee. Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2007
Der Ruhm des Dichters Georg Maurer (1907–1971) gründet sich bis heute auf seine Zeit als poeta doctus am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig, wo er von 1955 bis zu seinem Tod 1971 eine Professur innehatte und mindestens zwei Dichtergenerationen der DDR als Lehrer, Mentor, Übersetzer und Vermittler prägte. Nach einer bildungsbürgerlichen Sozialisation in Siebenbürgen geriet er als Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft – und wandelte sich dort zum Marxisten. Seit 1945 wurde das produzierende Subjekt sein großes Thema und die Arbeit als „große Selbstbegegnung des Menschen“.
Der Ausnahmezustand der „Geisterbahn“ mit ihren simulierten Drohungen und Schrecknissen bildet hier nur die Kulisse für ein Gedicht über die Zukunft. Die letzten beiden Verse, als dialektisches Wortspiel strukturiert, lesen sich wie die Standortbestimmung eines kollektiven „Wir“ in seiner Gesellschaftsordnung. Diese beiden Schlusszeilen enthalten einen Appell an den Veränderungswillen des Menschen, der selbst über sein soziales Schicksal entscheidet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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