GEORG WEERTH
Es war ein armer Schneider
Es war ein armer Schneider
Der nähte sich krumm und dumm;
Er nähte dreißig Jahre lang
Und wußte nicht warum.
Und als am Samstag wieder
Eine Woche war herum:
Da fing er wohl zu weinen an
Und wußte nicht warum.
Und nahm die blanken Nadeln
Und nahm die Scheere krumm –
Zerbrach so Scheer’ und Nadel
Und wußte nicht warum.
Und schlang viel starke Fäden
Um seinen Hals herum;
Und hat am Balken sich erhängt
Und wußte nicht warum.
Er wußte nicht – es tönte
Der Abendglocken Gesumm.
Der Schneider starb um halber acht
Und Niemand weiß warum.
1845
Den Pastorensohn Georg Weerth (1822–1856) hatte man früh in das prosperierende Handelsunternehmen eines reichen Verwandten geschickt, damit er sich dort die Logik des Kapitalismus zu eigen mache. Noch während seines Studiums der Kunstgeschichte und in seinen ersten Trinkversen und Liedern schien alles auf ein saturiertes Kaufmannsleben mit bürgerlich-musischen Ambitionen hinzudeuten. Erst sein 1843 realisierter Entschluss, als Handelskorrespondent nach England zu gehen, brachte die Wende.
In Bradlord in der Nähe von Manchester, einem Zentrum der englischen Textilindustrie, wird Weerth unmittelbar mit dem Elend der englischen Arbeiter konfrontiert. Die Begegnung mit Friedrich Engels (1820–1895) Analysen Zur Lage der arbeitenden Klasse in England schärften seinen Sinn für Gerechtigkeit. In seinen 1845 verfassten Liedern aus Lancashire gelingen Weerth einige anrührende und aufrüttelnde Balladen über das empörende Elend und die Ausbeutung im englischen Frühkapitalismus.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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