Gerhard Falkners Gedicht „die roten schuhe“

GERHARD FALKNER

die roten schuhe

fremd bin ich aufgewacht und früh
der stecker steckte noch
eine frau, kleiner als ein pferd reichte
mir einen apfel auf englisch:
apple, she said
willst du nicht beißen
doch wer sind die roten schuhe
the red shoes
dort auf seiner saueren seite
blutig steigen sie den apfel herab
ach ich muss sterben und habe
noch gar nicht gefrühstückt

1987/88

aus: Gerhard Falkner: wemut. Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt a.M. 1989

 

Konnotation

In einem Märchen Hans Christian Andersens (1805–1875) wird dem armen Mädchen Karen seine obsessive Vorliebe für rote Schuhe zum Verhängnis. Nachdem sie unschicklicherweise in der Kirche getragen worden sind, verselbständigen sich die roten Schuhe und zwingen Karen zu immerwährendem Tanz. Und selbst nach der Amputation der Füße setzen die roten Schuhe ihren Tanz fort. Der 1951 geborene Gerhard Falkner, ein Dichter mit einem Sensorium für opulente Bilder und metaphorische Überraschungen, spielt in seinem 1987/88 entstandenen Gedicht mit diesem Märchen und potenziert die gefährlichen Verlockungen.
Gerhard Falkner hat nicht nur die roten Schuhe aus Andersens Märchen, sondern auch den biblischen Apfel Evas in sein poetisches Diarium der Verführungen eingeflochten. Romantische Sprachgebärden verbinden sich mit lässig herbeizitierten Pop-Sentenzen („apple, she said“) und surrealistischem Witz. In den beiden Schlusszeilen kollidiert Pathos mit Komik: Auf einen Vers im hohen Stil („ach, ich muss sterben“) folgt eine eher banale Mitteilung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00