GERHARD RÜHM
dornröschen
mein schatz du hast mich wild gemacht
sag an wo führt das hin
ich bin aus tiefem schlaf erwacht
ob ich dornröschen bin?
ich sehe dinge wie noch nie
mein lieber schatz erklären sie!
die wolkenbildung ist mir neu
verzeihen sie, ich bin noch scheu
1966
aus: Gerhard Rühm: Geschlechterdings. Chansons, Romanzen, Gedichte, Rowohlt Verlag, Reinbek 1990
In seiner unbeirrbaren Experimentierfreude hat der 1930 geborene Gerhard Rühm, ein Klassiker der österreichischen Avantgarde, nach immer neuen unkonventionellen Formprinzipien zur Auslotung aller Sprachdimensionen gesucht. Neben manch strengem Formexerzitium gelangen Rühm in den 1960er Jahren auch die hinreißenden „chansons“, die Sprachspiel, naive Märchenhaftigkeit und skurrile Phantastik miteinander verbinden.
Nach dem Vorbild Heinrich Heines setzt Rühm die Volksliedstrophe ein und entlehnt überdies Heines Poem „Die Jahre kommen und gehen“ (vgl. Lyrik-Kalender vom 18.10.2007) die ironische „Sie“-Anrede an die Geliebte. So entsteht in der 1966 verfassten „dornröschen“-Miniatur eine Liebesszene, in der sich Sentimentalität, Ironie, Paradoxien, Kalauer und verdrehte Märchen-Motive überkreuzen und überlagern.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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