GERHARD RÜHM
geistliches lied für eine alternde frauenstimme
ich finde auch mein kurzes glück
mit dem und dem
mehr oder minder bequem
an manchen denk ich zurück
und hab ich einmal keinen mann
mach ich mich an den heiland heran
der bleibt mir für des lebens rest
denn die nägel halten ihn fest
1966
aus: Gerhard Rühm: Geschlechterdings. Rowohlt Verlag, Reinbek 1990
Wenn ein der experimentellen Poesie verpflichteter Dichter ein „Chanson“ anstimmt, ist damit zu rechnen, dass er die Sentimentalitätsanfälligkeit des Genres listig konterkariert. Als ein Meister in der eigenwilligen Umfunktionierung alter Formen erweist sich hier der 1930 geborene Gerhard Rühm, der vielseitigste Poet der Wiener Gruppe, der den Avantgardismus in viele Richtungen hin erweitert hat. Selbst die ehrwürdige Form des geistlichen Lieds vermag Rühm mit ketzerischer Motivik aufzuladen.
Das weibliche Ich des Gedichts beklagt zunächst in sehr eingängiger Form sein Liebesunglück und das Verlassensein im Alter. Dann gestattet sich das 1966 entstandene Gedicht aber eine böse Pointe, die das religiöse Heilsbedürfnis der alten Frau frech mit einem Akt der erotischen Besitzergreifung gleichsetzt. Die Eroberung des Heilands ist fern jeder Demut – und richtet sich auch noch auf einen wehrlosen Gekreuzigten. Dieser schwarze Humor, der sich mit Vorliebe auf religiöse und vor allem katholische Mythen fixiert, ist ein sehr österreichisches Phänomen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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