Gerhard Rühms Gedicht „ichiges fliessend“

GERHARD RÜHM

ichiges fliessend

wo wird die quelle zum bach
wo mündet der fluss ins meer
wann wechselt der tag mit der nacht und
wann ist es morgen
wo scheiden sich haut und berührung
wann hat mein atem mich wirklich verlassen
ist nicht mehr der meine
wann werden speise und trank teile von mir
wo beginne wo ende ich
wann wurde ich ich wann bin ich es nicht mehr
sehe ich mich erblicke ich ein gegenüber
ich bin die falle der sprache
gedicht
dieses

1986

aus: Gerhard Rühm: Geschlechterdings. chansons, romanzen, gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 1990

 

Konnotation

Alle Grenzen zwischen den Dingen werden aufgelöst, alles wird fluid, selbst die Konturen des Subjekts. Das Ich, so suggeriert schon der Titel des Gedichts von Gerhard Rühm (geb. 1930), ist selbst zu einer fließenden Unbestimmtheit geworden. Als leidenschaftlicher Zeremonienmeister des lyrischen Experiments und Formenerfinder der Konkreten Poesie interessiert sich Rühm für die Augenblicke der Verwandlung, da eine Gestalt in eine andere übergeht. Und so stellt er die Fundamente des Ich und die Vorstellung einer in sich geschlossenen Individualität radikal in Frage.
Mit seinen hartnäckigen Fragen nach den Charakteristika und den Begrenzungen des Ich gerät Ruhms Protagonist immer tiefer in die Ungewissheit. Am Ende sind es die Sprache selbst, und mit ihr das Gedicht, die für die „Falle“ des Existierens und für das unauflösbare Verstricktsein in die Selbsterkundung verantwortlich sind.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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