GERTRUD VON LE FORT
Abschied der Ausgetriebenen
Steine, nichts als Steine,
Kein einziger Stern –
Weine Volk, o weine:
Gott ist sehr fern.
Steine, nichts als Steine –
Was blitzte da?
Weine Volk, o weine:
Gott ist sehr nah.
1940er Jahre
aus: Gertrud von Le Fort: Gedichte und Aphorismen, Verlagsgruppe Lübbe, Bergisch-Gladbach 1988
„Ich habe als Dichterin keinen anderen Ehrgeiz mehr als etwas sagen zu dürfen, was um Versöhnung bittet“, notierte die katholische Schriftstellerin Gertrud von Le Fort (1876–1971) in einem späten Brief an den jüdischen Schriftsteller Viktor Wittkowsky. Die Tochter eines preußischen Offiziers war 1926 zum Katholizismus übergetreten – erst mit dieser Konversion beginnt ihre literarische Werkgeschichte.
Gertrud von Le Forts nach 1945 formulierter Wunsch nach Versöhnung entsprang der unmittelbaren Anschauung des nationalsozialistischen Terrors: Eine Nichte der Autorin hatte das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück nur knapp überlebt. Das vermutlich in den 1940er Jahren entstandene Gedicht ruft ein Volk der „Ausgetriebenen“ auf, ein Bild für die Leiden des europäischen Judentums. Schon im Vorfeld von Hitlers Machtergreifung hatte die Dichterin ihr Werk als Versuch beschrieben, „den Juden ein gutes Wort zu sagen“, wie es in ihrem Roman Der Papst aus dem Ghetto (1930) heisst.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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