Gottfried Benns Gedicht „Interieur (Haingott mit Buddhazügen, 17. Jahrhundert)“

GOTTFRIED BENN

Interieur (Haingott mit Buddhazügen, 17. Jahrhundert)

Gangesgott
unter der Pendeluhr – :
welcher Spott
in Deine Lotosflur!

Schläge, Zeiten,
Stunden und Stundensinn
vor Ewigkeiten,
Rätsel und Anbeginn!

Zielen, Zeigen,
Rufen für wann und wen,
wo dort im Schweigen
die alten Tiefen stehen,

die lächeln allen,
und alles ist sich nah – ,
die Zeiger fallen
und nur der Gott ist da.

1936

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Bd. II: Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Ein Kitsch-Accessoire unter einer Pendeluhr im bürgerlichen Wohnzimmer: Ein Melancholiker wie der Dichter Gottfried Benn (1886–1956) kann daraus eine pathetische Szene über die metaphysisch aufgeladene Zeit des Menschengeschlechts zaubern. Dem Dichter des Interieurs genügt ein Alltagsgegenstand, um daraus eine Einsicht über die „Rätsel“ und „Tiefen“ der anthropologischen Grundbestände zu gewinnen.
Im Januar 1936 hatte Benn von seinem Lieblings-Korrespondenten F.W. Oelze eine kleine Haingott-Statue erhalten, die er auf ein Bücherregal stellte. Was dann geschah, schildert Benn in einem Brief an Oelze vom 13.1.1936: „Grotesk. Gestern in einer Nachmittagsstunde belebte sich das alles u trat hervor, der ganze Widersinn.“ In dem eher ironisch gestimmten Gedicht „Gewisse Lebensabende“ (von 1946) taucht die Statue als „chinesischer Haingott“ wieder auf. Dort wird sie aber dann ganz profan gegen ein schmackhaftes Bier („eine Kelle Hulstkamp“) eingetauscht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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