Gottfried Kellers Gedicht „Abendlied“

GOTTFRIED KELLER

Abendlied

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!

1879

 

Konnotation

Die Augen sind die Fenster der Seele“: Das berühmte Diktum der Mystikerin Hildegard von Bingen scheint das Gedicht des Schweizer Erzählers und Lyrikers Gottfried Keller (1819–1898) beflügelt zu haben. Kellers wehmütiger Lobgesang auf die Augen grundiert ein Bewusstsein der Vergänglichkeit. In den paarweise gereimten, trochäischen Strophen wandelt das lyrische Ich bereits auf dem „Abendfeld“ des Lebens.
Kellers Dichterkollege Theodor Storm bezeichnete das „Abendlied“, das 1879 entstand, als „das reinste Gold der Lyrik“. Der darob geschmeichelte Keller schrieb ihm: „Wir können nun aber nicht, wie sie kritisch verlangen, mit fünf oder sechs dergleichen Lufttönen allein durchs Leben kommen, sondern brauchen noch etwas Ballast dazu, sonst verfliegen und verwehen uns jene sofort.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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