GOTTFRIED KELLER
Seemärchen
Und als die Nixe den Fischer gefaßt,
Da machte sie sich abseiten;
Sie schwamm hinaus mit lüsterner Hast,
Hinaus in die nächtlichen Weiten.
Sie schwamm in gewaltigen Kreisen herum,
Bald oben, bald tief am Grunde,
Sie wälzt’ mit dem Armen sich um und um
Und küßt ihm das Rot vom Munde.
Drei Tage hatte sie Zeitvertreib
Mit ihm in den Meeresweiten
Am vierten ließ sie den toten Leib
Aus ihren Armen gleiten.
Da schoß sie empor an das sonnige Licht
Und schaute hinüber zum Lande;
Sie schminkte mit Purpur das weiße Gesicht
Und nahte sich singend dem Strande.
um 1850
Die traditionellen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern werden in diesem sehr unorthodoxen Liebesgedicht des großen Schweizer Lyrikers Gottfried Keller (1819–1890) aufgehoben: Denn hier ist es eine gnadenlose Wasserfrau, die sich in einem sexuellen Beutezug einen armen Fischer erobert, bis sie seiner überdrüssig wird und ihn nach vollendetem Amüsement tot auf den Meeresboden sinken lässt.
Kellers Wasserfrau ist keine harmlos-unschuldige Nymphe, sondern ein durch und durch aggressives Wesen, das seine sexuelle Dominanz an einem Fischer erprobt. Nur durch den beschwichtigenden Titel „Seemärchen“ wird die Atmosphäre des Unheimlichen und Bedrohlichen in dem zwischen 1846 und 1854 entstandenen Gedicht etwas relativiert. Die Nixe in Kellers berühmterem Gedicht „Winternacht“ (vgl. Lyrikkalender 2007 vom 24.1.) kann ihr Element, das Wasser, nicht verlassen. Im „Seemärchen“ wird sie nun zur triumphierenden Furie.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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