GOTTFRIED KELLER
Winternacht
Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.
Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Ästen klomm die Nix’ herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor.
Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied:
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.
Mit ersticktem Jammer tastet’ sie
An der harten Decke her und hin,
Ich vergeß’ das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!
1851
Verzweifelter kann eine Wasserfrau kaum sein. Die Nixe ist eingeschlossen im Eis, mit „ersticktem Jammer“ tastet sie nach einem Ausweg. Ihr flehentlicher Blick unter der Oberfläche des gefrorenen Sees trifft den Spaziergänger, der regungslos in die schwarze Tiefe schaut.
Das verstörende Gedicht des Schweizers Gottfried Keller (1819–1890) hat die Leser rätseln lassen: Was sagt uns das mythische Bild der Nixe? Ist ihre Verlorenheit in der Eisesstarre, ihre Abgetrenntheit ein Sinnbild für Kellers lebenslange Lebensfremdheit, vor allem für seine Isolation gegenüber den Frauen? Das Gedicht spricht jedenfalls von der Nähe von etwas Ersehntem, das den Sehnsüchtigen gleichwohl nie erreicht. Es erschien erstmals 1851, im Rahmen von Kellers Neueren Gedichten. Dort steht es am Schluss der Abteilung „Jahreszeiten“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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