GOTTHOLD EPHRAIM LESSING
Lied aus dem Spanischen
Gestern liebt ich,
Heute leid ich,
Morgen sterb ich:
Dennoch denk ich
Heut und morgen
Gern an gestern.
1779
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), die Zentralfigur der deutschen Aufklärung, hat sein anrührendes „Lied“ als Übersetzung getarnt. Eine spanische Gedichtvorlage zu seinem Text konnte trotz aller philologischen Bemühung bis heute nicht aufgefunden werden. Im Musen-Almanach für das Jahr 1780. Herausgegeben von Voß und Goekingk ist das kleine Meisterwerk Ende 1779 erstmals erschienen – und es liest sich wie ein Andenken auf den Tod von Lessings ein Jahr zuvor verstorbener Frau Eva König.
In den ersten drei Zeilen ist das Fatum menschlichen Daseins auf prägnanteste Weise zusammengefasst: Liebe, Leid und Untergang sind die existenziellen Konstanten. Dann folgt ein trotziges „Dennoch“, das die größte Leistung eines aufgeklärten Bewusstseins annonciert – das Denken. Es ist diese Fähigkeit zur Vernunft und zur Reflexion, zur Vergegenwärtigung der Vergänglichkeit und zur Erinnerung an die Liebe, die den Menschen zum Einklang zwischen Gefühl und Intellekt verhilft.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar