Günter Eichs Gedicht „Briefstelle“

GÜNTER EICH

Briefstelle

Keins von den Büchern werde ich lesen.

Ich erinnere mich
an die strohumflochtenen Stämme,
an die ungebrannten Ziegel in den Regalen.
Der Schmerz bleibt und die Bilder gehen.

Mein Alter will ich in der grünen Dämmerung
des Weins verbringen,
ohne Gespräch. Die Zinnteller knistern.

Beug dich über den Tisch! Im Schatten
vergilbt die Karte von Portugal

1955

aus: Günter Eich: Gesammelte Werke, Band 1: Die Gedichte. Die Maulwürfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1991

 

Konnotation

Alle Zeichen stehen hier auf Rückzug: Das lyrische Alter Ego Günter Eichs (1907–1972) proklamiert die absolute Verweigerung und die Einkehr in die melancholische Grübelei. Die „Briefstelle“, die der Titel des 1955 erstmals publizierten Gedichts annonciert, bleibt ohne Adressat. Wie in den kryptischen Monologen des Spätwerks beschränkt sich Eich auf Negationen: Keine störenden Kontakte zur Außenwelt soll es mehr geben, nur noch die stumme Korrespondenz mit den Dingen.
Die Erinnerung produziert Bilder an unvollendete Lebenspläne – denn die „ungebrannten Ziegel“ in den Regalen kann man durchaus als biografische Reminiszenz entziffern. Sie verweisen auf die Ziegeleien, die Eichs Vater nach der Jahrhundertwende ohne viel Erfolg betrieb. Auf den universalen Triumph des Schmerzes reagiert das Ich mit schroffer Kommunikationsverweigerung. Hier hat sich jemand in unverbrüchlicher Einsamkeit eingerichtet. Selbst die Landkarten mit einem Sehnsuchtsort („Portugal“) können keine Orientierung mehr bieten – sie sind „vergilbt“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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