Günter Eichs Gedicht „Hoffnungen“

GÜNTER EICH

Hoffnungen

Die Sondermarken sind gestempelt,
die Tonbänder überspielt,
Bahnsteigkarten von Sarajevo
sammelt niemand.
Ich habe meine Hoffnung
auf Deserteure gesetzt.

Die Körperschaften
des öffentlichen Rechts
lassen Wasser durch.
Steh auf, Spengler,
schon rötet der Morgen
die Parkplätze, es ist
noch alles voll Hoffnung.

1964

aus: Günter Eich: Gesammelte Werke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1973, 1991

 

Konnotation

Die Beschwörung des Prinzips Hoffnung klingt hier nur noch boshaft. Der Dichter Günter Eich (1907–1972), der noch 1959 in seiner Dankrede zum Büchnerpreis nach einer Dichtkunst als „unbequeme Frage und Herausforderung der Macht“ verlangte, hatte in seinem Gedichtband Zu den Akten (1964) einen poetischen Schlussstrich gezogen. Eich wurde zum Saboteur positiver Botschaften und gesellschaftlicher Utopien. Es gibt nur noch ein Vorbild: den Deserteur.
Die Geschichtszeichen werden als obsolet kenntlich gemacht: die alten Dokumente sind gelöscht („die Tonbänder überspielt“), die mit bestimmten Ortsnamen verbundenen epochalen Augenblicke – ein Attentat in Sarajevo bildete den Auftakt zum Ersten Weltkrieg – ad acta gelegt. In der zweiten Strophe des 1964 entstandenen Gedichts hat Eich nur noch Spott übrig für die Institutionen der Gesellschaft. Ein Lichtschein verweist nicht mehr auf die „Morgenröte“ des Sozialismus, sondern allenfalls auf einen beleuchteten Parkplatz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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