Günter Herburgers Gedicht „Ehegedicht“

GÜNTER HERBURGER

Ehegedicht

Geliebt haben wir uns,
daß das Gras um uns sich entzündete.
Doch die Glut schadete uns nicht,
so selbstvergessen waren wir.

Verfolgt haben wir uns,
dass wir uns bis ins Mark trafen,
doch die Wunden schlossen sich wieder,
da kein Blut aus ihnen kam.

Seitdem wir uns aber geeinigt haben,
zusammen alt zu werden,
verwandelt sich die Liebe in Behutsamkeit,

und das Blut, das mitunter
nun aus Rissen quillt, schmerzt
Tropfen um Tropfen wie heißes Wachs.

1976/77

aus: Günter Herburger: Ziele, Rowohlt Verlag, Reinbek 1977

 

Konnotation

Im Vorwort zu seinem Gedichtband Orchidee (1977) hat der 1932 geborene Dichter und Langstreckenschreiber Günter Herburger dereinst seinen Lesern empfohlen, „Gedichte wie Luftschiffe zu benützen, denn wer nicht zu fliegen wage, verzichte auf Übersicht und Mut“. Diese Metaphorik des Fliegens und der phantastischen Abschweifung gehört zu den primären Antriebskräften von Herburgers utopischer Poesie, die an ihren schönsten Stellen Wunsch-Bilder erfindet, die das „Wahnsystem Realität“ (Nicolas Born) aufheben.
Für seinen 1976/77 entstandenen Lobgesang auf die Ehe hat Herburger die Sonett-Form gewählt, gleichwohl die strengen Form-Vorgaben dieses Gedicht-Typus sehr großzügig ausgelegt. Die beiden Quartette sind den altbekannten Topoi des Liebes-Diskurses vorbehalten: der Einheit von Liebe und Schmerz, Leidenschaft und Verletzung. Selbst nach der Domestizierung der Leidenschaft zur „Behutsamkeit“ können die gegenseitig zugefügten Wunden in der Ehe wieder aufbrechen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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