Günter Kunerts Gedicht „Am Styx“

GÜNTER KUNERT

Am Styx

In einem Wäldchen
nahe Berlin und fern zugleich
gewesenen Tagen. Mein Vater
schnitzt ein Boot aus Borke
ein Streichholz der Mast
das Segel ein Stück Papier
vermutlich von einer Rechnung.
Der Bach trägt es fort.
Es nimmt meinen Vater mit
und das Wäldchen und
die ganze Stadt und am Ende
noch den Erdenrest
in vollkommener Klarheit.

1996

aus: Günter Kunert: So und nicht anders. Ausgewählte und neue Gedichte, Carl Hanser Verlag, München-Wien 2002

 

Konnotation

Solange man schreibt“, hat der 1929 geborene Günter Kunert in einem Essay notiert, „ist der Untergang gebannt, findet Vergängliches nicht statt, und darum schreibe ich: um die Welt, die pausenlos in Nichts zerfällt, zu ertragen.“ Aber selbst in der poetischen Erinnerung wird man vom Bewusstsein des fortschreitenden Zerfalls eingeholt – das Leben geht unwiderruflich dahin, wie in dem anrührenden Vaterbild aus Kunerts Band Mein Golem von 1996.
Die Szene aus der Berliner Kindheit des Autors kann nur als poetischer Augenblick fortbestehen. Die Erinnerung an den Vater ist zugleich ein Denkbild über die Vergänglichkeit. Der Titel des Gedichts liefert die dazu passende mythologische Figuration: Der Styx ist nach antiker Vorstellung der Grenzfluss, der die Welt der Lebenden vom Totenreich trennt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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