Günter Kunerts Gedicht „Metaphysische Begegnung“

GÜNTER KUNERT

Metaphysische Begegnung

Die Leibesfrüchte platzen aus den Nähten.
Gott kam und sah: Es war nicht gut.
Zu ungeduldig, Einsicht zu erbeten,
verschwand er schnell mit milder Wut,

um seine Kreatur sich selbst zu überlassen:
Mensch hilf dir selber! war sein Abschiedswort.
Der blickt empor und kanns nicht fassen:
Erst schuf er mich – nun ist er fort!

Kehr wieder, Überich, du: keinen Zeiten
und keinem Wandel unterlegnes Einzelstück! –
Nach Antwortschweigen aus den Dunkelheiten
fällt seufzend das Geschöpf auf sich zurück.

2009

aus: Günter Kunert: Als das Leben umsonst war. Hanser Literaturverlag, München 2009

 

Konnotation

Welche epochalen Konsequenzen kann ein Gott ziehen, wenn er registriert, dass sich die von ihm erschaffene Welt als eine ununterbrochene Folge von Katastrophen und Desastern darstellt? Es bleibt ihm nur die Rücknahme der Schöpfungsgeschichte. Oder der Rückzug auf eine neutrale Position und die Nicht-Einmischung in die irdischen Angelegenheiten. Von diesen theologischen Grundfragen geht dieses Gedicht von Günter Kunert (geb. 1929) aus, der seinem Ruf als „Kassandra von Kaisborstel“ einmal mehr gerecht wird.
Der verborgene oder abwesende Gott: Das ist ein metaphysisches Phänomen, das für die Gläubigen selbst kaum zu ertragen ist. Alle flehentlichen Gebete oder Appelle, ein verlässliches „Überich“ als ordnungsstiftende Instanz zurückzugewinnen, schlagen fehl. Weder die sinnliche noch die mystische Gewissheit ist für die modernen Sinnsucher, die unter der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) leiden, jemals zu erreichen. Günter Kunert hat hierzu ein lyrisches Aperçu geliefert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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