GUNTRAM VESPER
Tagebuch Anfang Februar
Große Kälte seit Sonntag. So zersprang
heute nacht im Schlafzimmer
während ich las
die Zentralheizung unter dem geöffneten Fenster.
Ihr Aufschrei.
Was
wird aus einem Land, wenn
sein Gedächtnis krank ist
und was bedeutet ein Mensch, der
keine
Erinnerung hat.
1982
aus: Guntram Vesper: Die Inseln im Landmeer. Pfaffenweiler Presse, Pfaffenweiler 1982
Manchmal kann ein trivialer Vorfall einen Riss in unserem Dasein verursachen, der uns von einer versöhnlichen Sicht auf die Welt für immer trennt. Das Zerspringen der Zentralheizung setzt das lyrische Ich des Dichters Guntram Vesper (geb. 1941) hier unter Schock. Sofort ist das Ich konfrontiert mit den Anomalien eines Landes, das sich von der Erinnerung lossagen will. Für Vesper ist gerade das Gedicht der Ort, in dem die Erinnerung an die Traumata der Kindheit und die historischen Schrecken von Krieg und Nachkrieg aufbewahrt bleiben.
Der in der sächsischen Kleinstadt Frohburg geborene Sohn eines Landarztes kam 1957 mit seiner Familie in die Bundesrepublik, wo er im hessischen Friedberg eine „Entwürdigungsanstalt“ bzw. ein Internat besuchte und anschließend Medizin studierte. Nach dem Physikum brach Vesper die Mediziner-Laufbahn ab und begann Gedichte zu schreiben, „über Frohburg und mich selber“. Seither sind seine Gedichte von den politischen Dämonien der Vergangenheit durchzogen: es sind Expeditionen durch ein „dunkles, schwer schlafendes Land“, unheimliche Szenerien von Einsamkeit und Verlorenheit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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